Geißblatt oder „Jelängerjelieber“ oder Lonicera
Botanisch: Lonicera henryi und Lonicera peryclimenum
Besonderheit:
Insektenweide, Nachtfalterweide, Duftkletterer
Sie schlingt, sie ist eine Schlingpflanze. Sie windet sich links, wie auch die Schwarze Susanne oder die Prunkwinde. Bei mir sind es gleich zwei, die separat, aber intensiv Baum und Gerüst umgarnen. Man rechne also gebührenden Abstand ein. Soll sie eine Hauswand oder einen Schuppen begrünen, soll ein Abstand zur Wand von rund 10 cm eingerechnet werden.
Ich hatte es auf ihre länglichen rhododendron-ähnlichen Blätter im Winter abgesehen. Lonicera henryi ist immergrün. So steht es auf der Beschreibung der Gartenspezialisten. Sie ist es auch, nur, dass sie untenrum verkahlt.
Das Rankgerüst, das eigentlich der Kletterrose vorbehalten sein sollte, ist achtungsgebietend in die verholzende Umarmung genommen worden. Die Stränge des roséblühenden immergrünen Geißblattes, der Lonicera henryi, könnten dem Warenlager der Verpackungsindustrie entnommen sein. Sie bieten fingerdünne oder bauarbeiterkräftige bis hin zu segeltaustarken Trieben.
Das zweite Geißblatt schlang sich um einen Efeu, der inzwischen auch schon zarte Baumstämme entwickelt hat. Da es sommergrün ist, bildet es erst im Frühjahr ab März die lustigen blaugrünen Blattquirle um den Strang herum aus. Lonicera periclymenum hat auch im Sommer blaugrüne Blätter. Es blüht von Mai bis September/Oktober und verleitet mich, abends unter dem Blätterbaldachin zu verharren. Aufpassen muss ich dann, dass ich von den Fledermäusen nicht als Nachtfalter verwechselt werde.
Nach oben hin setzen sich beide keine Grenzen. Ich habe vom Mann zur Modulation der Triebe Drahtseile ziehen lassen. Das stört doch die Geißblätter nicht. Sie richten ihre steilen Triebe hoch auf gen Himmel. Daher auch der Volksname Jelängerjelieber. Will ich sie dann zwingen, die Drahtseile zu umschlingen, werden sie zum aggressiven Teenager und knicken einfach ab. Dumm gelaufen mit der richtungsweisenden Einordnung.
Und dabei hat das Geißblatt oder Jelängerjelieber oder Lonicera Symbolcharakter. Seit Jahrhunderten gilt diese Schlingpflanze als Symbol für die Untrennbarkeit eines Liebespaares. Sollte sich allerdings das Zusammenleben als Schlinge erweisen, und sollte einer der Liebenden Atemnot haben, liegt das wiederum nicht am Geißblatt, sondern an dem oder der Liebsten.
So ganz ohne ist das sowieso nicht mit der immerwährenden Liebe. Spätestens, wenn der Nachbar sich belästigt fühlt, mutiert die Liebe zur Geißel. Was ist die Alternative? Schon im Frühjahr muss ich Hand anlegen. Ich muss die ungewollten Triebe entfernen, die übereifrigen auch. Teilweise leite ich sie an den Drahtseilen in die Waagerechte. Wir sollen dafür sorgen, dass sie regelmäßig ausgeputzt wird, damit die unteren kahlen Triebe wieder so grün sind, wie sie es oben rum sind. Soso, das hatte ich überhört oder überlesen. Ich muss also wieder einmal meine Scherenhände gegen die beginnende Verkahlung der Schlingen einsetzen, und das mit akrobatischem Geschick auf der obersten Sprosse der Leiter nach den sich wegwindenden Trieben hangelnd. Denn inzwischen wird der unattraktive blattlose Pflanzenansatz bis gleich einen Meter hoch sichtbar. Der Rückschnitt einzelner Triebe soll VOR dem Austrieb erfolgen, wobei die Triebe sogar bis auf einen halben Meter gekürzt werden können.
Die Blüten bilden kuriose Blütenquirle. Rund 10 bis 15 schlanke langgezogene Einzelblüten haben eine karmesinrote oder leicht orangefarbene Blütenaußenschale. Vor der Öffnung wirken sie wie zehnfingrige Handschalen, die Sonnenbälle auffangen wollen. Beim Öffnen schieben sich die Staubfäden heraus, die von abgerundeten Einbuchtungen geschützt werden und sich einmal oben und einmal unten wie eine Zunge aufsperren. Im Spätsommer dann folgen die blauschwarzen Früchte, die für die Vögel Beerennahrung sind.
Die bisherigen milden Winter haben die Pflanzen unbeschadet und unbeschützt überstanden. Während des zwischenzeitlichen Frostwinters hatte ich Laub auf den Pflanzenfuß gelegt. Bei extremen Frösten um die minus 10 Grad schützt sich die Pflanze selbst und rollt ihre Blätter ein. Sie hat es sich beim Rhododendron abgeschaut. Man weiß ja nicht, wie diese Immergrünen kommunizieren. Vielleicht senden sie sich unterirdische Impulse als Warnsignal zu oder lassen den Eichelhäher Signale verkrächzen.
Gibt es glücklicherweise Schnee, oder auch viel Regen, bleibt das immergrüne Laub immanent. Das Pendel an der Lebensuhr ist die Länge der Trockenzeiten. Ist es zu trocken, welken die Blätter, vertrocknen sogar und fallen schließlich ab. Immergrüne sind angewiesen auf uns, auf Regen, auf Versorgung mit Nässe, da sie weiter assimilieren. Die mitteleuropäischen Urpflanzen sind da schlauer. Sie werfen im Herbst ihren Ballast ab.