Orientalischer Mohn
Botanisch: Papaver orientale
Der kleine, der streunende, der wilde Mohn, der hat mich schon immer fasziniert. In meiner Kindheit waren Anfang Juni die Getreidefelder betupft mit der roten Leuchtkraft des wilden Mohns. Später, im Juli, kam die blaue Kornblume dazu, auch die weiße wilde Margerite oder die Kamille.
Dann war lange Jahre Ebbe im Farbkasten der Natur. Mohn und Konsorten wurden zu Unkraut erklärt. Unkraut reduzierte den Ernteertrag. Ernteertrag war wichtig. Unkraut musste weg.
Jetzt erlebe ich den wilden Mohn wieder. Ende Mai blühte die Grasstrecke an der Autobahn leuchtend rot. Außerhalb Berlins und Brandenburgs breiten sich Flächen mit blühendem Mohn; sie signalisieren Energie. Rot ist die Farbe der Energie. Die Natur startet durch.
Energie ziehe ich auch aus dem Rot des Gartenmohns. Der ist gewaltig groß. Es ist eine Pflanze, die sich selbst nicht geheuer ist und auseinanderschlappt. „Bogig“ und „ausladend“ nennt man das fachmännisch. Beim Erwachsenwerden hat sie die stark behaarten und und gefällig gezackten graugrünen Blätter noch neugierig nach oben gerichtet. Im gereiften Alter gibt sie den Stolz auf und setzt alles daran, ihre übergroßen Blüten aus den übergroßen Blütenkapseln freizulegen. Es scheint ihr schwer zu fallen. Für jede einzelne Blüte setzt sie viel Energie ein. Nicht alle Blüten können sich gleichzeitig präsentieren. Muss ja nicht sein. Bei den Vögeln wird ja auch jedes Ei einzeln aufgepickt, ehe die Schreihälse die Eltern auf Würmersuche schicken. Die Mohnpflanze lässt die einzelnen Kapseln im Tagesrhytmus aufklappen, legt sie auf dem Boden ab, drapiert ihre Blätter drum herum - und verschnauft erst einmal. Jedes Aufbrechen einer Kapsel verursacht einen Knall, jedenfalls bei denen, die ihn hören können. Die Bienen hören ihn. Und sie kommen. Sie können sich nicht genug sattsehen an den schwarzen Flecken am Blütenboden. Sie rumoren sogar zu zweit unter dem schwarzen filigranen Nektarfadenkranz. Minutenlang summt es heftig im schwarzpuscheligen Zentrum.
Und die gewaltige Mohnpflanze atmet auf. Die Taktik war erfolgreich. Die Bestäuber reißen sich um die Staubgefäße. An den vollen Höschen trägt sie schwer. Die Pflanze macht sich für den nächsten Knospenknall bereit. Noch ein paar Tage geht das. Dann werden die Blätter gelb. Die Pflanze zieht sich zurück und treibt bereits im Spätherbst wieder aus. In milden Wintern bildet vor dem Frühjahr schon die dunkelgrünen kleinen Blattrosetten aus. Bis zum Mai ist die Streckung und Dehnung dann wieder vollendet.